Fulda, München, den 11. Oktober 2021
Dr. Christoph Quarch ist Philosoph, Autor und Denkbegleiter von Unternehmen. Er unterrichtet unter anderem an der Hochschule Fulda im Fachbereich Sozialwesen „Ethik und professionelles Selbstkonzept in der Sozialen Arbeit“. Doch nicht nur im Sozialwesen spielt Hilfe eine wichtige Rolle. Auch in der für Quarch so wichtigen altgriechischen Philosophie ist die Mäeutik, die gedankliche Geburtshilfe, von Bedeutung. Dazu verhilft uns der Philosoph in diesem Gespräch über Hilfe, Verantwortung, Verletzbarkeit und dem „Du“, das wir trotz digitaler Distanz zu bewahren versuchen.
Herr Dr. Quarch, haben Sie diese Woche schon jemanden geholfen?
Gerade erst habe ich meiner Tochter geholfen. Sie braucht immer mal wieder einen Fahrdienst, wenn es darum geht, Termine wahrzunehmen. Und meiner Frau habe ich bei der Gartenarbeit geholfen. Das Leben in der Familie hat für mich viel mit wechselseitigem Helfen zu tun.
Und abseits der Familie?
Neulich half ich einer Mitreisenden, ihre Koffer auf die Gepäckablage zu hieven. Und einem Passanten half ich dabei, den richtigen Weg zu finden.
Ist die Frage, wie nahe uns die Menschen stehen, denen wir helfen, entscheidend?
Ich glaube, dass wir Menschen von unserer Grundstruktur her darauf angelegt sind, anderen beizustehen, egal, wie nahe sie uns sind. Mir leuchtet es ein, wenn ein Philosoph wie Martin Heidegger das menschliche Dasein als ein „Mitsein“ beschreibt, das durch die „Fürsorge“ geprägt ist. Ich denke, es hat zudem etwas mit einer gewissen physischen Präsenz und Nähe anderer Menschen zu tun. Es ist sehr viel einfacher, jemanden zu helfen, der uns leibhaftig begegnet, als eine abstrakte Hilfe für eine anonyme Zielgruppe zu leisten – etwa Flüchtlingen in einem griechischen Flüchtlingslager.
Allein die physische Präsenz kann also eine Aufforderung sein.
Ja. Dazu fällt mir – um noch einen anderen Philosophen zu bemühen – Emmanuel Levinas ein, der sagte: Das Angesicht des anderen ist ein Anspruch, der an mich ergeht. Wenn das Angesicht des anderen hilfsbedürftig ist, dann geht von diesem Antlitz ein Anspruch an mich aus. Und dann liegt es in meiner Verantwortung, diesen Anspruch helfend eine Antwort zu sein.
Würden wir in einer idealen Welt allen Menschen helfen, nicht nur denjenigen, die uns physisch präsent sind?
Ich glaube nicht, dass eine solche Welt eine ideale Welt wäre. Denn diese ideale Welt würde uns vollkommen überfordern. Letztlich würde der Horizont der Hilfsbedürftigen unsere Kapazitäten, unsere Möglichkeiten, unser kognitives Verständnis, vielleicht auch unsere emotionale Bindungsfähigkeit übersteigen. Der Philosoph Martin Buber unterschied zwischen zwei Arten, wie wir uns zu anderen und zur Welt im allgemeinen verhalten: Wir können dem anderen als „Du“ oder „Es“ begegnen.
”"Wenn ich mich zu einem anderem als zu einem Es verhalte, ist er eher ein Gegenstand als ein Gegenüber."
Christoph Quarch
Worin liegt der Unterschied?
Wenn wir dem anderen als Du begegnen, geschieht dies immer in der Gegenwart. Dann ist uns der andere ein Gegenüber. Dann ergeht – wie bereits erwähnt – ein unmittelbarer Anspruch an uns – er „füllt unseren Himmelskreis“, sagt Buber. Wenn ich mich zu einem anderem als zu einem Es verhalte, ist er eher ein Gegenstand als ein Gegenüber. In diesem Fall ist der andere einfach nur ein anderer unter vielen. Buber weist darauf hin, dass diese enge Nähe der Beziehung, in der man sich unter den Anspruch des anderen stellt – eine Ich-Du-Beziehung -, etwas ist, das man nur in ganz bestimmten Augenblicken verwirklichen kann. In den Momenten der unmittelbaren Gegenwart eines anderen Menschen. In einer „idealen Welt“ nach meinem Geschmack würden wir uns öfter in dieser unmittelbaren Nähe, in dieser personellen Verbundenheit von Ich und Du bewegen, und wären so stets bereit, demjenigen, der uns begegnet, zur Seite zu stehen.
Also würden Sie sagen, dass wir auch die Menschen, denen wir physisch begegnen, oft als Es sehen?
Absolut. Die Art und Weise, wie wir uns alltäglich zu anderen verhalten und in der Welt bewegen, ist das, was Buber das „Ich-Es“ nennt. Eine eher funktionale Weise der Begegnung, in der wir uns nicht unter den Anspruch eines anderen stellen, sondern selbst Ansprüche gegenüber einem anderen erheben. Einem Es gegenüber frage ich nicht: Was geht dieser Mensch mich an? Sondern: Was kann ich mit ihm anfangen? In einer Welt, in der wir es gelernt haben, mit einem ökonomischen Mindest zu denken – wo die Frage, wie kann ich andere nutzbar machen, stets im Vordergrund steht -, ist die personale Begegnung, die Hilfsbereitschaft impliziert, immer seltener und schwerer zu verwirklichen.
Und wie kann man das Du wieder in anderen Menschen erkennen?
Das entscheidende daran ist, den Menschen und Dingen dieser Welt mit einer größeren Offenheit zu begegnen: uns unter den Anspruch des anderen zu stellen. Meistens laufen wir so durch die Welt, als ginge sie uns nichts an. Oder wir begegnen anderen in der Haltung: „Sie haben mir schon mal gar nichts zu sagen“. So imprägnieren wir uns gegen den Anspruch, der an uns ergeht. Das aufzubrechen ist schwierig, weil wir es nicht gewohnt sind, uns zu öffnen. Sich öffnen heißt nämlich immer auch, sich verletzlich zu machen.
Ist dies nicht gerade auch im Bereich des Sozialwesens ein riesiges Thema?
Ja. Denn die Sozialprofessionellen haben gelernt, sich als Dienstleister zu deuten, die eine bestimmte Funktion an ihren Klienten auszuüben haben. Wo diese Haltung sich verstetigt, wächst die Hilfe nicht aus der Unmittelbarkeit der menschlichen Begegnung, sondern wird zu einer Dienstleistung professionalisiert. Herrscht diese Dynamik einmal vor, verlernen die Menschen, sich auf einen anderen, gegebenenfalls einen Hilfsbedürftigen, einzulassen. Das führt dann aber oft dazu, dass ihnen die Sinnperspektive verloren geht. Einer der Gründe dafür, warum Menschen im Sozialwesen die Hauptrisikogruppe für Burnout-Erkrankungen und Depressionen sind.
Sie erwähnten gerade das „Sich-verletzlich-Machen“. Fällt es deswegen Menschen auch so schwer, Hilfe entgegenzunehmen?
Definitiv. Und ich vermute, das ist einer der Gründe dafür, dass sich im sozialen Sektor dieses Dienstleistungsparadigma durchgesetzt hat. Die Begründung dafür ist meist, man wolle den Hilfeempfänger nicht beschämen. Damit ist durchaus ein wichtiger Punkt angesprochen. Denn es gibt Hilfsbedürftige, die nicht die Bereitschaft aufbringen, sich auf die personale Begegnung mit denen einzulassen, die ihnen zur Seite stehen wollen. Und trotzdem sollten Sozialprofessionelle nicht aufhören, die Nähe zu suchen und anderen als einem Du zu begegnen. Denn existentielle Hilfe, die mehr ist als das Exekutieren des Dienstleistungskatalogs, erfordert immer wieder die Bereitschaft, sich auf eine Begegnung von Mensch zu Mensch einzulassen. Diese Begegnung können wir als eine helfende Begegnung beschreiben.
Quarch im Interview bei SWR1.
Wenn wir all das, was Sie gesagt haben, auf den CSR-Bereich (Corporate Social Responsibility) von Firmen beziehen, kann man dann von einer Begegnung mit einem Du sprechen?
Beim Thema Responsibility geht es um Verantwortlichkeit. Verantwortlichkeit kann unterschiedliches bedeutet, je nachdem, ob man sich in der Welt des Du oder in der Welt des Es bewegt.. Verantwortung in der personalen Du-Beziehung ist die Antwort, die ich selber bin auf den Anspruch, der mir vom Sein eines anderen an mich ergeht. Wenn wir aber in die Welt der Unternehmen gehen, sind wir per se in der Welt des Es. Denn wenn ein Unternehmen etwa eine Hilfsaktion aufsetzt, um ein Trinkwasser-Projekt in Madagaskar zu unterstützen, dann ist es nicht der unmittelbare Anspruch der Notleidenden Einwohner, der das Handeln motiviert, sondern man hat davon gehört, dass es dort ein Problem gibt und meint nun, seiner Verantwortung zu genügen, indem man dort Gelder hinschickt. Hier ist die Verantwortung etwas, das aus dem Willen erwächst, einer moralischen Pflicht zu genügen.
”Man würde den Menschen wirklich helfen, wenn sich die Helfenden in die personale Begegnung vorwagen.
Christoph Quarch
Das ist nicht verwerflich.
Gar nicht, das ist sogar ehren- bzw. lobenswert. Ich weise nur darauf hin, dass hier die existentielle Verbundenheit fehlt; und darauf, dass der Willen, etwas moralisch Gutes zu tun, unterschiedlich motiviert sein kann. Er kann aus einer moralischen Überzeugung entstehen. Aber auch aus der Erkenntnis, dass es für PR und Marketing förderlich ist, sich als ein sozial engagiertes Unternehmen darzustellen. Wir können das am Ende nicht unterscheiden. Das macht das Programm als solches nicht schlechter. Ihm fehlt jedoch diese unmittelbare Betroffenheit des Menschseins, die nach meinem Dafürhalten Hilfebedürftigen wirklich zu helfen vermag, weil sie sich dadurch als Personen gemeint wissen und nicht als beschämte Hilfeleistungskonsumenten.
Das heißt, erst wenn Mitarbeiter sich in einem aktiven Engagement vor Ort engagieren, ist die Möglichkeit gegeben, das Du anzusprechen.
Die Frage ist, was hilft Menschen wirklich? Im Sozialwesens ist die Antwort bekannt: Es geht darum, Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und sie darin zu unterstützen, sie selbst zu sein. Dafür brauchen sie die personelle Begegnung. Das gleiche lässt sich, denke ich, auf die Unternehmenswelt übertragen. Auch da würde man den Menschen wirklich helfen, wenn sich die Helfenden in die personale Begegnung mit denjenigen vorwagen, denen sie Hilfe zukommen lassen wollen. Dadurch werden die Betroffenen gestärkt. Sie sehen sich als Personen ernstgenommen. Nicht als anonyme Hilfedienstleistungsempfänger einer anonymen Hilfsdienstleistungsorganisation aus einem anderen Teil der Welt.
Auf jeden Fall haben Sie uns mit dieser persönlichen Begegnung heute weitergeholfen. Danke dafür, Herr Dr. Quarch.